Gibt es ein Leben vor dem Tod?
Bericht

Zahlreiche seiner Bücher finden wir in unserer Bibliothek. Er hat einen eigenen Wikipedia Artikel, in dem auch die TH Reutlingen als Ort seines Studiums erwähnt wird. Dr. Jörg Rieger, Professor für Theologie und Methodistische Studien an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee und Pastor der United Methodist Church (UMC) war bei uns zu Gast. Der Befreiungstheologe verbrachte einen ganzen Tag an unserer Hochschule: tagsüber Seminare, abends der Abschluss mit einem fulminanten Vortrag zur Rolle der Kirche im Zeitalter des Kapitalozän.
Nachdem man lange Zeit vom Anthropozän sprach (der Mensch als Individuum ist die treibende Kraft dieser Welt), ist heute vom Kapitalozän (wirtschaftliche Strukturen sind die bestimmenden Faktoren) die Rede. »Es gibt keine handelnden Individualsubjekte«, so Rieger, denn »wir sind immer schon in die Struktur eingebunden.« Wie kann Kirche heute also aussehen? Drei Punkte und drei Thesen stellt Rieger vor.
Erstens: Wir brauchen eine Ekklesiologie von unten. Wir dürfen nicht am falschen Ende, d.h. von oben beginnen. Das Wesen der Kirche bestimmt Rieger diakonisch: »Nicht: Wir haben eine Diakonie, sondern: Wir sind eine Diakonie.« Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kirche immer nur für andere da ist, sondern auch, dass die Kirche andere für sich da sein lässt. Wahre Demut hat die Größe, bedürftig um Hilfe zu bitten. Die Frage ist also nicht nur: Was tun wir für andere?, sondern genauso: Was können andere für uns tun? Die Zukunft der Kirche beginnt damit, sich helfen zu lassen.
Zweitens: Rieger spricht von einer Gotteslehre von unten. »Es ist nirgendwo schwieriger über Gott zu reden als in der Kirche, weil hier alle denken, dass sie schon wissen, wer Gott ist.« Eine Gotteslehre von oben sieht Gott als Manager, Geschäftsführer und Pantokrator an. Das Ebenbild dieses Gottes sind erhabene Prediger in Anzug und Krawatte. Doch Gott ist nicht oben, sondern unten. Weihnachten macht genau dies deutlich: Gott ist nicht im Himmel, sondern in der Krippe, nicht selbstgenügsam thronend, sondern bedürftig nach der Brust der Mutter schreiend, nicht im Heiligen, sondern im Menschlichen zu finden.
Drittens: Eine Ekklesiologie von unten führt zu einer Gotteslehre von unten und schließlich zu einer Theologie von unten. Rieger greift auf Paul Tillich zurück: Theologie ist das, was uns unbedingt angeht, was über Sein und Nichtsein entscheidet. Was ist es aber, was uns unbedingt angeht? Für Rieger ist es die Arbeit. Sie ist der Locus Theologicus, der eigentliche Ort der Theologie, mitten in der Welt. Kirche und Arbeit gehören zusammen, weil Kirche und Leben zusammengehören. Die Frage, die Rieger stellt, ist darum nicht »Gibt es ein Leben nach dem Tod?«, sondern: »Gibt es ein Leben vor dem Tod?« Gibt es kein Leben vor dem Tod, gibt es wohl auch keines danach. »Leben vor dem Tod« orientiert sich aber nicht am Wohlbefinden der Reichen, sondern an der Lebensfülle der Geringsten (Mt 25). Erst, wenn es für sie wirkliches Leben gibt, kann von einem »Leben vor dem Tod« die Rede sein. Und erst dann kann man die übrige Zeit damit verwenden, über ein Leben nach dem Tod nachzudenken.
Abschließend formuliert Rieger drei Thesen: (1) Die Herausforderung der Kirche ist es, Gott zu suchen, nicht zuerst in den Heiligtümern, sondern in der Welt. (2) Stellen wir zuerst die Frage nach dem Leben vor dem Tod, nicht zuerst für uns selber, sondern für diejenigen, die heute unter die Räder kommen. (3) Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie mit anderen da ist (in Anlehnung an Bonhoeffer).
Danke, Jörg Rieger, Sie haben uns inspiriert, irritiert und fasziniert! Wir heißen Sie jederzeit wieder willkommen bei uns.
Martin Thoms
